
Die Lukaskirche und ihr Architekt
Architektur gestaltet nicht nur Gebäude, sondern auch ihre Umgebung – und damit das Leben und die Gemeinschaft, die darin stattfindet. Dies ist für alle drei Säulen unseres Vereins – Kirche, Kultur und Quartier – von zentraler Bedeutung. Die Lukaskirche reiht sich in die lange Geschichte der Kirchenarchitektur ein, die über alle Epochen hinweg Ausdruck von Gesellschaft, Glauben und Ästhetik ist. Besonders spannend ist dabei die Betrachtung moderner Kirchen der Nachkriegszeit: Rossmanns Entwurf zeigt eine klare moderne und brutalistische Handschrift, die Räume schafft, die sowohl funktional als auch inspirierend sind.
Am 19. Juni 2025 fand in der Lukaskirche eine Veranstaltung zum 100. Geburtstag des Architekten der Lukaskirche Erich Rossmann statt. Hierbei hielt sein Sohn Andreas Rossmann eine Rede, in der er persönliche Erinnerungen an die Lukaskirche und die Arbeit seines Vaters mit der aktuellen Frage nach der Zukunft des Gebäudes als kulturellem und kirchlichem Ort verbindet. Außerdem trägt er ein Kapitel aus dem Buch „Erich Rossmann. Im Dammerstock habe ich mich immer verirrt – Aus einem Karlsruher Architektenleben“ (erhältlich im Buchhandel) vor.
Hier die Rede im Wortlaut:
Mein Name ist Andreas Rossmann.
I
Wer in die Kirche geht, sieht SICH hinterher anders als vorher. – Immer vorausgesetzt, er hört eine zum Nachdenken anregende Predigt, doch das ist, so heißt es unisono, hier, in der Lukaskirche, die Regel und nicht die Ausnahme. – Wer in die Kirche geht, sieht SICH hinterher anders als vorher. Das ist mein erster Satz.
Und das ist mein zweiter Satz: Wer heute in die Kirche, in diese Kirche geht, sieht SIE hinterher anders als vorher – SIE, nämlich die Kirche. Dafür haben Sie, lieber Herr Kieser, gesorgt, das fasst den Erkenntniswert Ihres Vortrags in nuce zusammen, für den ich Ihnen danke und zu dem ich Ihnen gratuliere.
Es gibt einen Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen, er ist nicht groß, aber es gibt ihn, ein Wort, zwei Buchstaben nur sind anders und machen ihn aus. An die Stelle von SICH tritt SIE. Damit verändert sich der Sinn, verschiebt sich die Perspektive, und genau an dem Punkt, den diese kleine Verschiebung markiert, befindet sich die Lukaskirche nach der Entscheidung des Stadtkirchenrats, sie aus der Finanzierung zu entlassen. Sie wird sich, etwas allgemein formuliert, öffnen müssen, um auch künftig, die Details sind noch nicht bekannt, Kirche zu sein, aber auch andere, weitere Nutzungen aufzunehmen, sie wird sich wandeln müssen von einem kirchlichen zu einem kulturellen Ort. Die Sprache der beiden Sätze spiegelt diese Veränderung erstaunlich genau wider: Im ersten Satz endet das eine Wort, das sich ändert, auf einen geschlossenen Laut, auf „ch“, und im zweiten Satz endet das Wort, das sich ändert, auf einen offenen Laut, auf „ie“. Die Öffnung teilt sich also in der Sprache mit und ich könnte meine – zugegeben spitzfindige – buchstabenmikroskopische Betrachtung noch fortsetzen, indem ich darauf aufmerksam mache, dass dieses „ch“ dem „chi“, dem 22. Buchstaben im griechischen Alphabet, entspricht und damit dem ersten Buchstaben im Christusmonogramm, bestehend aus chi und rho. Das chi fällt also weg. Das lässt sich natürlich als verstiegene Lesart abtun, das Problem ist nur, was die Zukunft der Kirche angeht, ist diese Lesart nicht unrealistisch.
Um diese Verschiebung geht es heute, um diesen anderen, um diesen erweiterten Blick auf die Kirche. Ich behaupte nicht, dass das ein ganz neuer Blick ist, dass die Kirche nicht auch vorher schon so gesehen wurde, und doch eröffnet die Situation des Übergangs die Möglichkeit dafür. Aus dem Dienst der Kirche entlassen, ist das Gebäude seiner Funktion entkleidet, damit steht die Architektur gleichsam frei und kann, unbelastet, als Architektur angesehen und gesehen werden. Anders gesagt: Das Gebäude geht nicht auf in seiner Funktion, es hat einen Wert an sich. Darauf soll hier heute die Aufmerksamkeit liegen, für diesen einen Tag, der zufällig – und doch symbolisch – zusammenfällt mit dem hundertsten Geburtstag des Architekten.
II
Ich fang nochmal an, zweiter Anlauf, diesmal weniger Schwarzwaldhochstraße, mehr Rheinebeneflachbahn. Ich habe, es ist allerdings sehr lange her, eine Beziehung zu dieser Gemeinde, keine große, aber sie reicht weit zurück und war lange unterbrochen und wahrscheinlich wäre sie nicht wieder an die Oberfläche getreten, wenn nicht die Frage aufgetaucht wäre, die heute im Raum steht: Wie geht es weiter mit der Lukaskirche?
Ich war, daran erinnere ich mich, wenn auch nicht sehr genau, dabei, als die Lukaskirche am vierten Advent, am 20. Dezember 1964, geweiht wurde, damals war ich zwölf, ich war vorher auch bei der Grundsteinlegung dabei und dazwischen mit meinem Vater, der mich gerne mitnahm, auch auf der Baustelle; und ich war später, Anfang der Siebzigerjahre Mitglied des Sandkorn-Kellertheaters, das hier nebenan, in der großen Villa, die damals Pfarrhaus war, seinen Sitz hatte, ein Amateur-Theater mit Profi-Ambitionen, kaum größer als ein Nudelbrett und nur, wenn ich es noch richtig weiß, 60 Sitzplätzen, doch mit Brecht, Camus und Peter Weiss auf dem Spielplan. Ich erinnere mich an ständig ausverkaufte Vorstellungen, Gastspiele in der Umgebung, unter anderem im Gefängnis in Bruchsal, und Sommerfeste im Garten. Der Pfarrer damals war Pfarrer Löffler und hatte einen Rübezahl-Bart, und der große Zampano war Siegfried Kreiner, der Gründer und umtriebige Leiter des Theaters.
Ich könnte Ihnen jetzt von meiner Schauspielerkarriere erzählen, „nicht das noch“ werden Sie denken, das interessiert doch wirklich niemanden, ich mache es trotzdem, eitler FAZke davorne, aber es geht ganz schnell, denn weit bin ich nicht gekommen: Ich habe es bis zum Diener in der Komödie „Mirandolina“ von Carlo Goldoni gebracht, und der einzige oder fast einzige Satz, den ich aufsagen musste und der fiel mir doch tatsächlich jetzt wieder ein, hieß: „In seinem Zimmer ist er nicht, das weiß ich.“ Weltliteratur, was sonst, und krönender Höhepunkt meiner Schauspielerkarriere. Aber es gab auch Aufgaben abseits des Rampenlichts, so war ich zeitweise für Gastspiele, die von außen kamen, zuständig. – Ende der Vorstellung.
Als ich fünfzig Jahre später, im Herbst 2023, von den Sparbeschlüssen des Evangelischen Stadtkirchenrats erfuhr, als zeitweise wöchentlich Mails mit Artikeln aus den BNN bei mir einschlugen, die mitten in der Regierungszeit der Ampel eine Ampel blinken sahen, die vom drohenden Aus der Lukaskirche kündete, bin ich, weil es völlig unvorbereitet kam, erstmal erschrocken. Meine erste Reaktion: Nicht die Lukaskirche!
Das hat seinen guten Grund: Mein Vater hat nur zwei Kirchen gebaut, 1964 die Lukaskirche und im gleichen Jahr begann die Planung für die Jakobuskirche, die gar nicht weit von hier 1970 in der Nordweststadt eingeweiht wurde. Um diese Jakobuskirche hat es 1985 Streit gegeben. Der Architekt wandte sich gegen die Anbringung eines großen Holzkreuzes an der Außenfassade (und zwei Jahre später auch gegen ein Kruzifix im Innenraum), weil er den neutralen Charakter des Werks beeinträchtigt fand, und als 2001 der Einbau eines Fensterzyklus beschlossen wurde, sah er sein Urheberrecht verletzt und zog vor Gericht. Die Klage wurde abgewiesen. Das hat ihn, nur darum geht es mir und nicht etwa um eine juristische Bewertung, sehr beschäftigt, auch geärgert und gekränkt. 2017 wurde die Kirche abgerissen, das hat er nicht mehr erlebt.
Eine Kirche zu bauen, dem Herrscher des Himmels auf Erden ein Haus zu errichten – das ist für Architekten das, was für Ingenieure der Bau einer Brücke oder für Leichtathleten der Zehnkampf ist: die Königsdisziplin. Immer schon und heute, da kaum mehr Kirchen gebaut werden, vielleicht erst recht. In den vergangenen Jahren wurden seitens der Kirche schon verschiedene Gebäude meines Vaters aufgegeben, das Pfarrhaus im Weiherfeld wurde, inzwischen steht ein Mehrfamilienhaus auf dem renditeträchtigen Grundstück, plattgemacht, für das Gemeindehaus in Meckesheim ist der Abriss, wenn er nicht schon vollzogen ist, beschlossene Sache, die Gemeindehäuser in Wolfartsweier und Eutingen könnten folgen, die Liste ist unvollständig und wird vermutlich bald länger, die Möglichkeiten, dem entgegenzutreten, sind nicht groß, das Urheberrecht ist in der Architektur ein stumpfes Schwert. Die Lukaskirche steht, das möchte ich ausdrücklich betonen, nicht in dieser Reihe, sie spielt in einer anderen Liga; ihre Zukunft ist nicht gefährdet, davor bewahrt sie der Denkmalschutz, ihre Zukunft ist offen.
Was mir dann als nächstes einfiel, war, dass mein Vater 2025 hundert Jahre alt geworden wäre, dass also die Neuausrichtung der Kirche genau mit diesem Datum zusammenfallen könnte, und danach sieht es nun ja auch aus. Und als drittes fiel mir nicht gleich, sondern etwas später ein, dass es ein Manuskript von ihm gibt mit seinen Lebenserinnerungen, das er schon 1999/2000, also zehn Jahre vor seinem Tod, abgeschlossen hat; es kursierte als Word-Datei in der Familie, in der es gelesen oder auch nicht gelesen und dann aber auch vergessen wurde; nicht zuletzt wegen seines Umfangs, etwa 260 Seiten, ist es unveröffentlicht geblieben.
Ich hab dieses Manuskript dann nochmal gelesen und mir überlegt, dass jedes dieser drei – ich sag‘ mal – Motive, erstens die offene Zukunft der Lukaskirche, zweitens der hundertste Geburtstag des Architekten und drittens dessen unveröffentlichten Lebenserinnerungen, für sich genommen nicht genug hergibt für eine Veranstaltung; aber dass diese drei ganz unterschiedlichen Motive vielleicht so zusammengeführt werden können, dass sie sich gegenseitig stützen, ja für eine kleine Öffentlichkeit, für die Lukas-Gemeinde und für einen Teil der Architektenschaft in Karlsruhe, einen Kairos darstellen. Das war der Vorschlag, mit dem ich an den „Verein für Lukas“, der damals noch „Rettet Lukas!“ hieß, herangetreten bin und den ich zunächst über ein Jahr lang in Gesprächen mit Heinrich Blatt, einem der beiden Vorsitzenden, sondiert und entwickelt habe, lieber Herr Blatt, Sie haben sich das mit großer Offenheit und auch Gelassenheit angehört und es befragt, dafür vielen Dank. Herausgekommen ist das Konstrukt, dem Sie sich jetzt gegenübersehen.
Ich hab‘ den Text dann wiedergelesen und den, womöglich bereits von meinem Interesse gelenkten, Eindruck gewonnen, dass er mit dem Abstand von 25 Jahren nicht blasser geworden ist, sondern da, wo er Zeitzeugenschaft bekundet, sogar gewonnen hat. Andererseits enthält er viele Passagen, die für eine Leserschaft über die Familie und den Bekanntenkreis hinaus kaum interessant sind. In der Konsequenz heißt das, dass ich, und das war nicht ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei, aus den 260 Seiten 90 Seiten gemacht, also viel gestrichen, aber den verbliebenen Text nur wenig und behutsam redigiert habe. Und ihm einen Titel aufgedrückt habe, den der Autor nicht vorgesehen hat: „Im Dammerstock habe ich mich immer verirrt“. Was es damit auf sich hat, erfährt, wer das Buch liest. Und ich habe, last but not least einen Verleger dafür gefunden, nein: nicht gefunden, den hatte ich, der nicht zum ersten Mal, er hat 2009 schon die Rom-Zeichnungen von Erich Rossmann veröffentlicht, beweist, dass sein durchaus ausgeprägtes kaufmännisches Verständnis nicht so stark ist wie sein Verständnis, ja seine Leidenschaft für Kunst und Architektur. Das ist Walther König, der heute hier ist und gerade denkt, dass ich ihn hier erwähne, jetzt wirklich nicht nötig und völlig überflüssig gewesen ist.
III
Bevor ich nun – endlich – ein Kapitel aus dem Buch vorlese, erlauben Sie mir noch eine Bemerkung, die ich eigentlich gar nicht machen wollte, weil ich sie für eine Selbstverständlichkeit halte; inzwischen habe ich mitgekriegt, dass eher vermutend der Veranstaltung eine Absicht oder auch nur eine Nebenabsicht, ein Seitenhieb gewissermaßen, zugeschrieben oder unterstellt wird, die sie – das möchte ich ganz entschieden sagen – nicht verfolgt und für die sie nicht zu haben ist.
Diese Veranstaltung ist KEINE Veranstaltung gegen den Stadtkirchenrat und dessen Entscheidung, die Ampel für die Lukaskirche auf Rot zu stellen, diese Veranstaltung ist eine Veranstaltung FÜR die Lukaskirche: Das ist ein Unterschied, und der kann einen ersten Schritt dazu darstellen, dass ihre Architektur bei der Frage, wie die Kirche künftig genutzt wird, mitgedacht und angemessen berücksichtigt wird.
Es liegt mir fern und ich fühle mich weder kompetent noch in der Lage, die Entscheidung des Stadtkirchenrats zu kommentieren oder gar zu kritisieren, und es wäre kurzsichtig, die Schwierigkeiten, mit denen er sich konfrontiert sieht, nicht ernst zu nehmen oder zu unterschätzen. Diese Schwierigkeiten sind heute, auch wenn sie im Hintergrund stehen, nicht das Thema – schon deswegen nicht, weil es zu groß und komplex ist, um es an einem Nachmittag behandeln oder gar lösen zu können. Dieses Thema wird die Lukasgemeinde noch lange und konstruktiv beschäftigen, es ist Teil eines gesellschaftlichen Wandels, für den es realistische, tragfähige Lösungen zu entwickeln gilt, die für jede Gemeinde, jede Kirche anders aussehen und in den nächsten Monaten, vielleicht Jahren auszuhandeln sind. Ich denke, und mit dieser Pointe möchte ich es dazu bewenden lassen, es gibt niemanden in der Lukas-Gemeinde und auch nicht in der Karl-Friedrich-Gemeinde oder der Markus-Gemeinde, der es künftig lieber mit dem Heiligen Florian halten möchte.
So viel oder so wenig dazu. Das Kapitel aus dem Buch, das ich nun vorlese und das, wer die FAZ liest, gestern in der Zeitung vorabgedruckt fand, nimmt die „Stunde null“ der Architekturfakultät an der Technischen Hochschule Karlsruhe, wie sie damals hieß, in den Blick, sie beschreibt die erste Vorlesung des frisch zum Professor berufenen Egon Eiermann im Sommersemester 1947. Ich weiß, der Begriff „Stunde null“ ist problematisch, weil er über die politischen und ideologischen Kontinuitäten der Zeit hinwegtäuscht, in diesem Fall aber erscheint er mir gerechtfertigt. Der Architekt Egon Eiermann ist fast unbelastet durch die Zeit des Nationalsozialismus gekommen, in der er ausschließlich für private Bauherren tätig war. In seiner ersten Vorlesung fallen „Stunde null“ und Sternstunde zusammen:
Erich Rossmann
Die erste Vorlesung von Egon Eiermann an der TH Karlsruhe 1947
In der ersten Woche des Sommersemesters 1947 war es dann soweit, dass der neue Professor sich vorstellte. Etwa dreihundert Studenten saßen in dem Hörsaal, der heute „Eiermann-Hörsaal“ heißt. In diesen Saal waren im Krieg ein paar Brandbomben gefallen. Als ich 1946 nach Karlsruhe kam, hatte ich im „Studentischen Aufbaudienst“ mitgeholfen, den Raum wieder instandzusetzen. Die Bänke lagen damals kreuz und quer herum, waren verkohlt und teilweise verbrannt. Auf den Stufen war das Parkett zum Teil versengt und hatte sich durch die Nässe, die durch das Dach eingedrungen war, geworfen und abgelöst. So mussten wir den Raum erst einmal ausräumen und das Parkett entfernen. Dann beorderte Bauinspektor Zippel, der in einer Baracke neben dem Aulabau eine Art kleines Hochschulbauamt, eine Außenstelle des Staatlichen Hochbauamts, leitete, die Schreiner in den Saal, die die Stufen reparierten und neues Parkett verlegten. Ein neues Gestühl war wohl zu teuer – außerdem unpraktisch, weil es für die vielen Studenten der Unterstufensemester nicht ausgereicht hätte. So wurden einfach dreihundert quadratische Schemel aus ungestrichenem Fichtenholz in den Saal gestellt, immer zwei Reihen auf jede Stufe. Darauf saßen wir dicht gedrängt. Schreiben oder Skizzieren musste man auf den Knien.
So warteten wir auf den neuen Professor. Draußen war der Himmel grau, und es regnete seit dem frühen Morgen. Die meisten von uns hatten ihre grauen Militärmäntel an. Manche hatten sie umgefärbt, um sich ein zivileres Aussehen zu geben. Die Luft war feucht, es roch nach Schweiß und Tabakrauch. Die Fenster waren von innen beschlagen, nur vorne brannte die Tafelbeleuchtung.
Dann kam er herein. Er trug ein einfach geschnittenes Jackett aus hellem, naturfarbenem Tweed, das kein Revers hatte. Darunter ein Seidenhemd in gleicher Farbe und dazu eine Hose aus grauem Flanell. Wie er da stand vor unserer grauen Masse, im Licht der Tafelbeleuchtung, schien er ein Wesen aus einer anderen Welt. Er schien direkt aus dem eleganten Berlin der Vorkriegszeit zu kommen. Damals in Berlin hatte meine Mutter manchmal Die neue Linie gekauft, in der ich diese edle, sehr einfache Herrenmode gesehen hatte. Mittelgroß, leicht athletisch, mit etwas schütterem, dunkelblondem Haar wirkte er jünger als die ältesten von uns.
Mit einem charmanten Lächeln, das eine kleine Unsicherheit verriet ob der vielen Studenten, die er vor sich hatte, stellte er sich vor: „Ich heiße Egon Eiermann, war bis zum Ende des Krieges Architekt in Berlin und soll jetzt hier die Lehre für Baugestaltung und Entwerfen vertreten. Sie sind ja sehr viele und wollen alle Architekten werden. Das ist gut so. Denn in den nächsten zehn Jahren müssen in Deutschland (er sagte Deutschland, obwohl es damals nur die vier Besatzungszonen gab und man nicht wusste, welche Art Staat sich daraus entwickeln würde) zehn Millionen Wohnungen gebaut werden. Und Schulen, Krankenhäuser, Hotels, Verwaltungsgebäude, Fabriken und Werkstätten. Da werden Sie alle gebraucht.“ Wir hatten oft etwas trübsinnig darüber diskutiert, was aus uns werden würde, wo es doch in Karlsruhe damals mehr Architekturstudenten als Maurer gab.
Dann fing Eiermann an zu fragen: „Welche Architekten kennen Sie denn?“ Einer sagte: „Schmitthenner.“ Sein Blick verdüsterte sich: „Den schätze ich gar nicht!“ Paul Schmitthenner war einer der Stararchitekten während des Dritten Reiches. Er baute Einfamilienhäuser mit symmetrischen, gegliederten Fassaden und hohen Walmdächern, von denen einige an Goethes Gartenhaus im Park von Weimar erinnerten. Als Hochschullehrer in Stuttgart hatte er sich zu dem Problem der „deutschen Baukunst“ immer wieder geäußert und die Architekten der Stuttgarter Weißenhofsiedlung wiederholt öffentlich angegriffen. Ein anderer nannte Paul Bonatz, der wie Schmitthenner Lehrer in Stuttgart war. Er hatte 1943 aus Gründen, die nicht bekannt waren, Deutschland verlassen und war Hochschullehrer in Ankara geworden. Ihn goutierte Eiermann schon eher.
Ich war vor dem Krieg in der Gartenstadt in Karlsruhe aufgewachsen und kannte die von Gropius geplante Dammerstocksiedlung. Auf einer Bahnfahrt von Hannover nach Göttingen hatte mir meine Mutter aus dem Zugfenster die Schuhleistenfabrik Fagus-Werk in Alfeld von Walter Gropius gezeigt. So sagte ich: „Gropius.“ Ein anderer nannte Le Corbusier. Jetzt strahlte Eiermann.
Margarete Faust, eine Studentin aus der Oberstufe, nannte Frank Lloyd Wright, was Eiermann mit freundlichem Staunen quittierte. Margarete hatte schon während des Krieges studiert und erzählte mir später, dass sie in der französischen Zeitschrift l’Architecture d’aujourdhui zum ersten Mal Bauten dieses berühmten Amerikaners gesehen hatte. Damals studierten auch Elsässer in Karlsruhe. Sie hatten die Zeitschrift mitgebracht.
Dann fragte Eiermann: „Hat einer von Ihnen schon einmal den Namen Mies van der Rohe gehört?“ Schweigen im Saal – es meldete sich niemand. „Mein Gott“, stöhnte er, „von dreihundert künftigen Architekten kennt keiner den Mies.“ – Jetzt, wo ich dies schreibe, kann ich es kaum fassen, dass damals keiner von uns diesen Namen auch nur gehört hatte. Das zeigte, in welcher Isolierung wir in Deutschland während der Nazizeit gelebt hatten. Selbst Wolf Wetterer, der 1929, als der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona als Meisterwerk gefeiert wurde, schon achtzehn Jahre alt war, hatte von Mies van der Rohe nie gehört.
Eiermann erzählte uns von ihm. Dass er bei seinem Vater Steinmetz gelernt hatte und aus eigener Kraft, ohne ein Studium, Architekt geworden war. Sein Pavillon in Barcelona und das Haus Tugendhat in Brünn zeigen als erste die völlige Trennung von Tragkonstruktion und raumbildenden Flächen – das Prinzip des freien, nicht von Traggliedern eingeschränkten Grundrisses. Mies war der letzte Direktor des Bauhauses und 1937 nach Amerika gegangen, wo er in Chicago die Bauten des Illinois Institute of Technology entworfen hatte. Dann wollte Eiermann wissen, wie wir uns über Architektur informieren. „Was lesen Sie denn für Zeitschriften?“ Als erstes sagte einer: Baumeister. Heftiges Missfallen bei Eiermann: „Das ist die Schlechteste.“ Beim Baumeister war während der NS-Zeit und in den ersten Jahren nach dem Krieg der sehr konservative Rudolf Pfister Chefredakteur. Er verehrte Paul Schmitthenner. Und er unterstützte ihn, als darum gestritten wurde, ob Schmitthenner mit der Lehre, die er vertrat und nach der öffentlichen Diffamierung Andersdenkender wieder auf einen Lehrstuhl in Stuttgart berufen werden könne.
Dann kamen die Bauwelt und die gerade neu gegründete deutsch-schweizerische Zeitschrift Bauen und Wohnen. „Es ist schwer für Sie, sich über das, was jetzt in der Architektur vor sich geht, zu informieren“, meinte Eiermann. „Hier bei uns wird noch immer fast nichts gebaut. Und die Projekte, die in den Zeitschriften veröffentlicht werden, zeigen nicht nur unsere materielle Armut, sondern auch den Rückstand, in den wir gegenüber der internationalen Entwicklung während des ‚Tausendjährigen Reiches’ geraten sind. Es gibt aber zwei amerikanische Hefte, Architectural Forum und Architectural Record. Die finden Sie im Amerika-Haus. Die sollten Sie sich ansehen. Sie finden in diesen Heften nicht nur die Bauten der besten Architekten in den USA, sondern auch die der emigrierten Europäer: Marcel Breuer, Walter Gropius, Mies, Richard Neutra.“
Heiter gestimmt ging ich nach Hause, durch die Ruinen der zerbombten Stadt. Vom Wiederaufbau merkte man zwei Jahre nach Kriegsende noch immer nichts, und die Lebensmittelrationen wurden eher kleiner als größer. Aber hier hatte einer mit Elan und Zuversicht von der Zukunft gesprochen und von den Aufgaben, die vor uns lagen. Er gewann unsere Zuneigung, noch bevor wir erfahren konnten, was für ein guter Lehrer er war.“
Soweit der Auszug aus dem Buch, in dessen autobiographischer Erzählung, das möchte ich nicht verschweigen und das wundert mich selbst, die Lukaskirche leider gar nicht vorkommt. Auch deswegen gilt ihr ein eigenes kleines Kapitel, das sie in Texten und Bildern der Entstehungszeit vorstellt.
Bevor ich nun an Friedrich Waltz weitergebe, der zum Ausklang, gleichsam als Satyrspiel, aus dem Nähkästchen seiner Erinnerungen an seine dreißigjährige Tätigkeit im Architekturbüro Rossmann + Partner plaudert, möchte ich zu dem Buch nur sagen, dass mir, der ich es herausgegeben habe, ein Urteil darüber nicht zusteht. Ich belasse es deshalb bei einem Schluss-Satz, der meinen Anfangs-Satz variiert: Wer das Buch liest, kennt Erich Rossmann hinterher besser als vorher.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.